Ein alter Kater Wassily kam öfter uns besuchen um sich ein rohes Ei, auf eine Untertasse geschlagen, zu holen. Das brauchte er, denn er hatte außer seine Eckzähne, keine weiteren Zähne mehr. Die Nachbarn ringsum kannten mich bald und grüßten zurück, aber im Haus unten wohnte noch eine alte Dame. Die wollte mit mir nichts zu tun haben. Sie war bis 1945 Sanitäterin an der Front gewesen. Für sie war ich ein Njemetz, ein Faschist und es nutzte nichts ihr zu erklären, dass ich erst zwei Jahre nach Kriegsende geboren wurde. Denn Faschist bleibt Faschist. Ich ließ sie auch "links liegen", war bemüht jedem Streit aus dem Wege zu gehen. Einmal war Valentina kurzfristig von der Arbeitsstelle mit anderen zu einer Kolchose zur Erntehilfe eingesetzt worden. Ich stand vor verschlossener Tür, Schlüssel hatte ich noch nicht und dummerweise noch eine große Büchse Kekse dabei. Sie vor die Tür, auf die Treppe legen wollte ich nicht, denn wer weiß wo sie dann hinkommt. Die alte Dame von unten würde sowieso die Gelegenheit haben "nach zu schnökern", also klingelte ich bei ihr und schenkte ihr die Kekse. Sie griff zu, macht die Tür zu, ich hörte wie sie die Büchse aufmachte, dann ging die Tür auf und sie nickte mir lächelt zu. Eigentlich nicht erwähnenswert, aber Valentina sagte mir, dass die Dame aufhörte in der Garnison gegen sie zu hetzen. Auch wenn sie den Mund kaum auf bekam, wurde sie doch freundlicher. Irgendwie hatte ich auch Verständnis für ihr Verhalten, denn die Faschisten hatten ihren Mann, die Kinder und viele Verwandte umgebracht. Der Krieg hatte sie hart werden lassen.

Links von uns lebte auch eine alte Pensionärin, aber die konnte mich prima leiden. Sie nannte mich "Fedja" nach ihrem verschollenen Sohn, dem ich ja so ähnlich sähe. (Ich hatte einen Vollbart und das war damals sehr selten bei den Russen zu sehen, - ...... ist ja auch egal, oder?) Oft kam ich zur gleichen Zeit von Arbeit, dann stand sie am Holzzaun und winkte mich ran. Ich soll mal rüber kommen, sie habe wieder mal "Einen da". Den sollte ich probieren. Ein paar mal bin ich hin und habe von ihrem selbst gemachtem Schnaps "Sammogon" genascht. Der hatte um die 70 Umdrehungen, schmeckte grausam, wie "Knüppel auf den Kopf" und ging so schnell in die Birne, dass ich die wenigen Stufen zu Valentinas Wohnung nur mit viel Mühe und Konzentration schaffte. Ein Schluck aus einer Flasche Verdünnung muss ähnlich schmecken. Später komme ich noch mal auf diese wirklich nette Nachbarin zurück, wenn ich die "Holzaktion" beschreibe.

Auf der rechten Seite kam der Nachbar oft "voll" nach Hause. Dann war Hektik angesagt, Lärm wegen dem kalten Essen, Geschrei, Schläge, Gezeter, dann Ruhe, ....... kurz und heftig geliebt und dann war die Welt bei ihm wieder in Ordnung. Das klingt vielleicht komisch, war es aber nicht, schon gar nicht für seine Frau. Ich grübelte warum das so sein müsse, bis ich zu dem Schluss kam, dass die paar Rubel, die er verdiente weder vorne, noch hinten reichten. Da jagte er das meiste durch die Gurgel und vergaß das "beschissene Leben". Ohne dieses Doping ging bei Vielen aus der Nachbarschaft nichts mehr. Der Suff war überall anzutreffen. Am Gesichtsausdruck war oft schon zu erkennen wer Sammi getrunken hatte. Er war am billigsten, der 1/2 Liter 1Rubel und 50Kopeken. Es gab auch Spezialisten, die haben ihn mit Honig usw. behandelt, bis der "fiese" Geschmack weg war. Die Wirkung war aber stets die gleiche, auch wenn man nicht immer das Gefühl hatte ein scharfes Messer zu verschlucken.

Durch meine russische Freundin hatte ich bald einen Haufen Bekannte in der Stadt. Ich wurde mit eingeladen, feierte die Feste wie sie fallen. Sah unterschiedliche Wohnungseinrichtungen, originelle praktische Varianten, spürte den Stolz auf die indischen Kacheln im Bad, dem selber gefertigten Mosaik auf der Toilette, Kristallleuchter, japanisches Stereo Radiorekorder und immer Sekt und Kaviar auf dem Tisch. Dann erfuhr ich, dass die Tochter dies und der Sohn jenes Institut erfolgreich besuchte usw. ..... Mein Bild von den Russen und Ukrainern wandelte sich langsam. Wenn dann meine Arbeitskollegen mal wieder über die Russen spotteten, versuchte ich es ihnen zu erklären, wie schwer es manch einer hat.